Lützerath – Wessen Geschichte wird erzählt?

von Denise Ney

Im letzten Sommer hatte ich Gelegenheit, an einem Vortrag einer Bewohnerin aus dem Gebiet rund um den Tagebau Garzweiler teilzunehmen. Obwohl ich schon einiges über die Ereignisse vor Ort, den Einsatz um den Erhalt der Dörfer und den Kampf um Lützerath wusste, war es nochmal etwas ganz anderes, das von einer unmittelbar betroffenen Person zu hören. Seitdem bin ich deutlich kritischer, wenn ich Artikel und Berichte dazu lese. Denn ich mache mir Gedanken, aus welcher Sicht etwas geschrieben oder berichtet wird. Ich stelle mir immer öfter die Frage: Wessen Geschichte zählt?

In den meisten Medien steht, dass die Menschen vor Ort ja schon seit 30 Jahren wussten, dass sie „umziehen“ müssten. RWE hätte den Bewohner:innen ja gutes Geld gezahlt und beim Umzug geholfen. Auch der letzte Bewohner von Lützerath hätte sich ja am Ende mit RWE „geeinigt“. Viele Medien scheinen hier das Spiel des fossilen Großkonzerns ebenso willfährig mitzuspielen, wie die Politiker:innen in NRW und in den jeweiligen Bundesregierungen. Wo das Narrativ der Energiesicherheit für den Industriestandort Deutschland nicht reicht, wird das Wort „Arbeitsplätze“ gedroppt und schon tanzen die meisten nach der Pfeife von RWE. Auf deren Webseite finden wir Formulierungen wie „Dabei hat sich das Konzept der gemeinsamen Umsiedlung seit Jahrzehnten bewährt.“ oder „Oberstes Ziel ist der Erhalt der Dorfgemeinschaft.“ Klingt freundlich und entgegenkommend, oder?

Aber was steckt dahinter?

Nordrhein-Westfalen ist zwar ein Flächenstaat, doch gerade rund um Köln dicht besiedelt. Genau in diesem Gebiet liegt aber der Braunkohletagebau, und damit scheint es ausgemacht, dass die Menschen dem Kohleabbau zu weichen haben. Denn hier greift das deutsche Bergrecht, das auf das Allgemeine Berggesetz für die Preußischen Staaten von 1865 zurückgeht. Es regelt die Nutzung von Bergbauressourcen, die Rechte und Pflichten von Bergbauunternehmen und den betroffenen Gemeinden. Der Grundsatz des Bergrechts, wonach der Bergbau Vorrang vor anderen Nutzungen hat, wurde im Laufe der Geschichte immer wieder bestätigt und ist heute noch Teil des deutschen Bergrechts. Trotz diverser Änderungen, zuletzt im Zusammenhang mit der deutschen Einheit, blieb es dabei – obrigkeitsstaatlich, undemokratisch und unvereinbar mit Rechtsstaat und Grundgesetz. Dieses Rechtskonstrukt bildet die Grundlage für die Vertreibung von Menschen, Enteignungen und das Verschwinden ganzer Dörfer in riesigen Tagebaulöchern, die an Mordor erinnern. Dieses Rechtskonstrukt und das Machtungleichgewicht, in dem die Bewohner:innen einem mächtigen fossilen Konzern gegenüber stehen, mit dessen Einfluss und Ressourcen sie nicht mithalten können, sorgt dafür, dass die Menschen oft keine Möglichkeit haben, sich gegen die Enteignung ihrer Häuser und ihres Landes zur Wehr zu setzen.

Dieser Prozess startet weit vor der tatsächlich stattfindenden Abbaggerung, belastet und zermürbt die Menschen über Jahre. Steht die bergbaurechtliche Inanspruchnahme fest, tritt RWE an die Bewohner:innen der Dörfer mit Kaufangeboten heran. Nach Anwalt aussehende Mitarbeiter in Anzug und Krawatte gehen von Haus zu Haus und machen Angebote. Es wird geraten, sich nicht mit den Nachbar:innen auszutauschen, suggeriert, dass für Einzelne „besondere Angebote“ gelten würden. Nebenbei wird immer stärker Druck aufgebaut, denn wer nicht verkauft, wird enteignet.

Auf diese Art und Weise schluckte der Tagebau Garzweiler in den vergangenen Jahrzehnten bereits 16 Dörfer. Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Dorfgemeinschaften wurden auseinandergerissen. Fruchtbarer Boden wurde für dreckige Kohle geopfert. In all der Zeit hatten die Bewohner:innen keine Möglichkeiten, sich zu wehren. Ihnen fehlten rechtliche, organisatorische, finanzielle Ressourcen und am Ende eines Zermürbungsprozesses durch den fossilen Großkonzern auch die Kraft, sich erfolgreich zur Wehr zu setzen.

So können Tausende Menschen heute ihre Elternhäuser und die Orte ihrer Kindheit nicht mehr aufsuchen. Sie sind verschwunden in einem hunderte Meter tiefen dunklen und riesigen Loch.

Diejenigen Menschen, deren Dörfer (noch) nicht abgebaggert wurden, leben am Rande des Tagebaus mit den ständigen Geräuschen der riesigen Kohlebagger, einem 24 Stunden an 7 Tagen pro Woche beleuchteten Gebiet. Wäsche kann zum Trockenen nicht draußen aufgehängt werden, da die dauerhafte Luftverschmutzung einen ständigen Grauschleier zur Folge hat.

Die Feinstaub-Immissionen durch den Tagebau Garzweiler verursachen Atemwegserkrankungen wie Bronchitis und Asthma nicht nur im unmittelbaren Umkreis, sondern bis in umliegende Städte wie Köln und Aachen.

All das geschah und geschieht direkt vor unseren Augen. Es geschieht genau jetzt in Lützerath. Und genau dagegen setzen sich die Bewohner:innen der umliegenden Dörfer mit Hilfe der Aktivist:innen der Klimagerechtigkeitsbewegung zur Wehr. Studien und Analysen, wie die des Deutschen Instituts für Wirtschaftsförderung (DIW Berlin) zeigen, dass die Kohle unter Lützerath nicht mehr abgebaggert werden müsste, um die Energiesicherheit im Rahmen der Energiewende zu sichern. Das DIW kommt auch zu dem Ergebnis, dass noch maximal 235 Millionen Tonnen Kohle in den drei Tagebauen der Region – Inden, Hambach und Garzweiler II – aus der Erde geholt werden dürften, um die Verpflichtungen Deutschlands zur Einhaltung des Pariser Klimaschutzabkommens einzuhalten. Bei dieser Begrenzung würden nicht nur der Hambacher Wald, sondern auch alle noch bedrohten Ortschaften am Tagebau Garzweiler erhalten bleiben – einschließlich Lützeraths. Die 1,5 Grad Grenze verläuft damit vor Lützerath. Die Zukunft unserer Lebensgrundlagen ist mit dem Schicksal Lützraths verknüpft. Der Hinterzimmerdeal, den Robert Habeck und Mona Neubaur mit RWE ausgehandelt haben, darf nicht in die Tat umgesetzt werden.

#LützerathUnräumbar

Quellen:

https://www.klimareporter.de/protest/luetzerath-als-1-5-grad-grenze

http://garzweiler.com/wie-funktioniert-eine-umsiedlung/

https://www.rwe.com/nachbarschaft/rwe-vor-ort/umsiedlung/?list1=*&list2=*

https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/garzweiler-ii-doerfern-droht-umsiedlung-selbst-ohne-kohlefoerderung-a-4a2305d8-0002-0001-0000-000176418843

https://wiki.piratenpartei.de/Reform_des_Bergrechts

https://www.deutschlandfunkkultur.de/braunkohletagebau-garzweiler-ii-verheizte-heimat-100.html

https://www.bund-nrw.de/fileadmin/nrw/dokumente/braunkohle/2019_08_15_BUND_Hintergrund_Braunkohle_und_Gesundheit.pdf

https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/raeumung-in-nordrhein-westfalen-der-toxische-deal-um-luetzerath-a-9c14079c-7485-42de-964b-7b2df6a49cdc

https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.839634.de/diw_aktuell_84.pdf 

https://taz.de/taz-Sommercamp-2022/!173119/

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