Berlin als menschengerechte Stadt - Eine Vision

von Denise Ney

Wenn mir wieder mal Personen aus Politik oder Wirtschaft entgegenhalten, dass Berlin ohne Autos, ohne eine Fortführung der A100 oder den Bau der Tangentialverbindung Ost, ohne neue Straßen und Parkplätze nicht vorstellbar wäre, schüttele ich den Kopf und wundere mich. Derzeit leben wir in einer Großstadt, in der wir unseren Kindern als Erstes beibringen müssen, dass sie am Fahrbahnrand unbedingt stehen bleiben müssen, weil wir um ihr Leben fürchten. Mein Mann ist Landschaftsgärtner und nimmt keine Aufträge mehr innerhalb des S-Bahn-Rings an, weil er zu lange braucht, um durch die Stadt zu kommen, kaum Möglichkeiten findet, Material und seine Geräte in der Nähe der Baustelle abzuladen. Im Jahr 2022 gab es in Berlin 22 Verkehrstote, davon 12 zu Fuß Gehende und 10 Radfahrende. In 17 der 22 Fälle waren Pkw oder Lkw beteiligt. Wie oft stehen in ihrer Mobilität eingeschränkte Menschen am abgesenkten Bordstein und können ihn nicht nutzen, weil er zugeparkt ist. Diese Liste ließe sich noch endlos fortsetzen. Man bekommt den Eindruck, Berlin wäre ein Platz für den motorisierten Verkehr statt für die Menschen, die hier leben.

Manchmal schließe ich dann die Augen und stelle mir vor, wie es sein könnte. Wie könnte ein menschengerechtes Berlin aussehen?

Berlin im Jahr 2030

Mein Berlin im Jahr 2030 ist eine Stadt voller Möglichkeiten, Freiheit und Zugänglichkeit. Durch die Umsetzung des Mobilitätsgesetzes aus dem Jahr 2018 haben wir wichtige Schritte in Richtung einer menschengerechten Stadt gemacht.

Der Straßenraum wurde umverteilt: die Bedürfnisse von Familien mit Kindern, zu Fuß Gehenden, Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigungen und Radfahrenden stehen im Mittelpunkt von Stadt- und Mobilitätsplanung. Das Ergebnis: Eine Stadt, in der es nur noch maximal 10% Parkplätze für private Pkw gibt. Autos mit Verbrennungsmotoren gibt es hier nicht mehr. Innerhalb des S-Bahn-Rings fahren keine privaten Pkw. Wer ein Auto braucht, findet ein zu den Bedürfnissen passendes Angebot an einer der Sharing Stationen im gesamten Stadtgebiet. Der ÖPNV wurde und wird gerade auch in den Randbezirken weiter ausgebaut und ist inzwischen ebenso vollständig elektrifiziert wie der restliche öffentliche Fuhrpark. Im Innenstadtbereich sind Lade- und Abstellflächen für den Liefer- und Wirtschaftsverkehr angelegt und sorgen dafür, dass Lieferverkehr, Gewerbe und Handwerk ihre Wege und Arbeiten effektiver planen können.

Eltern haben keine Angst mehr um ihre Kinder, denn breite Fußwege und übersichtliche Gestaltung des öffentlichen Raums haben die Gefahr, überfahren zu werden, auf nahezu Null reduziert. Radfahrende fühlen sich sicher und die gut ausgebauten, räumlich von Fußwegen und Straßen getrennten Radwege laden immer mehr Menschen ein, auf dieses Transportmittel umzusteigen. Ob U-Bahn, S-Bahn oder Tram – in all diesen ÖPNV-Angeboten ist die Mitnahme des Fahrrads in ausreichend großen separaten Abteilen möglich und kostenfrei.

Am 30. Juni 2030 ist eine große Feier mit allen Berliner:innen geplant, denn 2028 und 2029 waren die ersten Jahre ohne Verkehrstote. Familien und Freunde müssen nicht länger um geliebte Menschen trauern. Statt eines weißen Geisterrades wird an diesem Tag ein von Kindern einer Berliner Schule gestaltetes „Rad des Lebens“ enthüllt. Auch ist geplant, einen Tag der offenen Tür der Feuerwachen und Rettungsdienste anzubieten. Es soll gefeiert werden, dass die Zeiten bis zum Eintreffen bei Notfällen oder an Unfallorten seit 2 Jahren wieder den gesetzlichen Vorgaben entsprechen. In einem Berlin ohne ständige Staus kommen auch die Fahrzeuge von Einsatzkräften der Rettungsdienste und Feuerwehr endlich wieder ohne unnötige Verzögerungen durch die Stadt. Bei der Pressekonferenz zu den Feiern am 30. Juni wird die Gesundheitssenatorin beiläufig anmerken, dass durch die verbesserte Stadtluft die Zahlen von Asthmaanfällen und Erkrankungen der Atemwege auffallend abgenommen haben.

Barrierefreiheit spielt eine zentrale Rolle in meinen Vorstellungen von einem menschengerechten Berlin. Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigungen haben endlich die gleichen Möglichkeiten wie alle anderen, sich im öffentlichen Raum zu bewegen, Stadtgrün und Umfeld zu genießen. Ob Breite der Bürgersteige, abgesenkte Bordsteine, barrierefreie Zugänge zu allen öffentlichen Verkehrsmitteln oder Parkflächen und Ladeinfrastruktur für ein E-Auto, wenn dessen Nutzung erforderlich ist – alles wurde mitgedacht und umgesetzt.

Dies ist mein Traum für Berlin im Jahr 2030. Eine Stadt, die Menschen in den Mittelpunkt stellt, in der jede Person unabhängig von ihrer körperlichen Verfassung uneingeschränkt am städtischen Leben teilnehmen kann. Ich wünsche mir, dass wir gemeinsam dafür arbeiten, diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Jede:r Einzelne von uns kann einen Beitrag leisten, indem wir uns für eine nachhaltige Mobilität einsetzen und barrierefreie öffentliche Räume fordern. Es liegt an uns, für eine bessere Zukunft zu kämpfen. Wir können eine menschengerechte Stadt schaffen - lasst uns jetzt damit beginnen!

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