Was für ein Demowochenende! Was für eine willkommene Abwechslung zum faden Laptop-Zoom-Corona-Alltag! Teil 1: Samstag!

von Marit Schatzmann

Aber von vorne: 05./06. Juni 2021 in Deutschland, es steht ein großes, dezentrales Aktionswochenende an unter dem Motto: "Sozial- und klimagerechte Mobilitätswende jetzt! Autobahnbau stoppen!". Der inzwischen jahrzehntelang gewachsene Widerstand gegen fossile Infrastruktur von inzwischen vorgestern trägt seine Früchte:

Ein breites Bündnis vielfältiger Organisationen hatte aufgerufen und die Resonanz war groß, tausende Menschen von Oldenburg bis München beteiligten sich deutschlandweit an über 70 Orten mit Aktionen gegen Autobahnen, für Radwege oder ÖPNV-Ausbau. In Berlin organisierte das Aktionsbündnis "Sand im Getriebe" eine Aktion zivilen Ungehorsams, bei der mehr als 400 Aktivist*innen mit ihren Körpern direkt am Ort des Geschehens den Weiterbau der A100 blockieren, damit ein mutiges, starkes Zeichen gegen in Beton gegossene Klimazerstörung setzten und gleichzeitig mit kreativer Nutzung der Fläche einen Tag lang eine Utopie für morgen lebten. 

Für mich persönlich beginnt das Aktionswochenende mit dem Empfang meines Patenonkels, der im "Ökodorf-Speckgürtel" um Berlin lebt, sich seit locker 40 Jahren konsequent für eine andere Welt einsetzt und noch heute anlässlich gefühlt jeder Demo zu mir nach Berlin kommt. Unser krasser Respekt gebührt den Menschen, die sich schon für Klimaschutz eingesetzt haben als es noch so viel unkomfortabler und einsamer war als die letzten paar Jahre.

Marit fährt mit anderen bei der Demo Fahrrad

Nun steht sie also, unsere Crew für das Wochenende: Mein Patenonkel, Partner, 1jähriger Sohn und ich. Am Platz der Luftbrücke schwappen wir als weitere Welle in ein motiviertes Meer an türkis gekleideten Klimalisten-Menschen auf Rädern mit Musik, Fahnen und Schildern. Seit ich nach der TVO-stoppen-Demo im April die schöne Erfahrung gemacht habe, auf einer Demo nur eine Woche später meinem Spruch "Wachstum nur noch für Kinder, Bäume, Solidarität" in den Händen einer anderen jungen Mutter wieder zu begegnen, habe ich ihn offiziell zu meinem Lieblingsspruch und ständigen Begleiter gekürt. Am Kinderanhänger am Rad meines Partners hängt der Klassiker: "Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten - Klimaliste Berlin." Und so geht es im Fahrrad-Pulk los, den Tempelhofer Damm hinunter Richtung Autobahn. Das Highlight der letzten A100-stoppen-Demos, DAS berauschend-positive kollektive Erlebnis zu Coronazeiten, den Autobahntunnel mit tausend Rädern zu durchströmen, muss ab jetzt aufgrund von Risiko der Massenpanik leider ausbleiben. Nundenn, die Autobahn im Sonnenlicht mit tausend Rädern zu füllen ist auch nicht schlecht;).

Wie es sich für einen intensiven Protest-Tag unter dem Banner einer Ein-Ziel-aber-viele-Themen-Partei gehört, ist allerdings für mich schon bald eine Unterbrechung der Raddemo angesagt: Mit Enno, ebenfalls Klimalisten-Mitglied und Kandidat in Tempelhof-Schöneberg, biege ich am Britzer Damm gen Norden ab. Unser Ziel: Die "Schule muss anders"-Demo am Hermannplatz.

Marit auf dem Fahrrad

Die nun folgende Viertelstunde Radfahrt führt uns nochmal 'wunderbar' vor Augen, warum wir eigentlich für autofreie Städte protestieren: Stinkender, lauter Horror, als Radfahrerin gefühlt - und im Prinzip real - in ständiger Lebensgefahr. Den Versuch einer Unterhaltung brechen wir nach 5 Minuten ab, fahren lieber stillschweigend hintereinander her Richtung Hermannplatz, und fügen uns somit wohl oder übel dem alltäglichen Wahnsinn einer autozentrierten Stadt, der sich leider noch Normalität nennt. Ein Rechtsabbieger übersieht den Radstreifen und steht vor einer Ampel deutlich zu weit rechts, ich spreche ihn durch das bei der Hitze offenstehende Fenster freundlich - ich schwöre, echt freundlich - darauf an; er entgegnet, dass er völlig vorschriftsmäßig stehe - untermauert mit dem Hinweis, dass er im Besitz eines Führerscheins sei. Na immerhin. Beeindruckend, denken Enno und ich und lassen ihn fahren. 

Am Hermannplatz treffen wir auf Christian und Klaus und bilden nun somit die Delegation der Klimaliste, die mit den vielen anderen Menschen auf der Demo für eine andere Bildungspolitik steht. Ein besonderes Highlight für mich ist die Begegnung mit ehemaligen Mitstreiter*innen des Vereins 'Kreidestaub', mit denen ich 2016 im Rahmen meines Lehramtsstudiums eine 'Lernreise' erlebt habe: Eine studentisch organisierte, 12-tägige Reise zu ausgezeichneten Schulen überall in der Republik verteilt, die Schule anders denken und gestalten und damit das Potenzial der Mesoebene Einzelschule aufzeigen. 

"Lehrer*in sein ist politisch", "Schule muss anders - Lehrkräftebildung auch!" lese ich auf ihren Schildern - und komme mal wieder nostalgisch ins innere Grübeln, wo man sich überall noch sinnvoll einsetzen könnte in unserer Gesellschaft. Nun, ich habe mich inzwischen für Vollzeit Klima entschieden und bin meines Erachtens damit erstmal ganz gut an der Quelle und Mündung vieler Problematiken dabei.

Schule Muss Anders Demo - Menschen halten ein Banner hoch

Es folgen wirklich bewegende Reden von Menschen, die aus verschiedensten Perspektiven heraus (Menschen mit Behinderung, Menschen mit Migrationshintergrund, Referendariat, Sozialarbeiterin,...) von ihren alltäglichen Verzweiflungskämpfen mit dem Mangelsystem Schule berichten und dabei jede auf ihre Weise Hoffnung und Leidenschaft ausstrahlen für die Grundidee von Bildung und Aufwachsen selbst. 

Wie so oft drängt sich (bestimmt nicht nur) für mich der Gedanke auf, dass wir tiefer im System liegende Fragen und unbequeme Wahrheiten werden angehen müssen, die mit allen anderen Bereichen der Gesellschaft verwoben sind; allen voran die Frage der Umverteilung, Prioritätensetzung und letztendlich des Wirtschaftswachstums - meine Hauptmotivation bei der Klimaliste mitzumachen. 

Zunehmend habe ich den Eindruck, Menschen guten Willens versuchen an allen Enden und Ecken unseres Systems jeden Tag das Beste, aber wir alle sind letztendlich überfordert mit dem Druck und den Systemen, die wir selbst geschaffen haben. In dem Wohlstands- und Wachstumsparadgima, das heute noch vorherrschend ist, frisst allein die Verwaltung des Status Quo, von der individuellen bis zur höchsten Verantwortungsebene, so viele Ressourcen, dass keine Zeit und Kraft mehr bleibt für das, was wir gerade am dringendsten bräuchten: eine Transformation. 

Diese unerträglich tragische Dynamik ist nur zu durchbrechen mit einer Abkehr vom Wachstum und einer Umdeutung von Wohlstand. Wir müssen uns ganz neu und anders fragen, warum wir eigentlich hier sind und wieviel uns das wert ist. Und dieser definitiv komplexe Umstand und Prozess muss politisch kommuniziert und moderiert werden, mit voller wissenschaftlicher Ehrlichkeit. Geschobene Klimapolitik ist geschobene ehrliche Auseinandersetzung, umso mehr davon brauchen wir jetzt. Ja, innerhalb unseres derzeitigen Systems bedeutet Abkehr vom Wachstum soziale Verwerfung - oder es braucht einen Kulturwandel. Keine Abkehr vom Wachstum allerdings bedeutet umso mehr soziale Verwerfung in der (gar nicht mehr allzu fernen) Zukunft und stellt eine unsägliche intergenerationelle und globale Ungerechtigkeit dar. Solange dies nicht auf dem Tisch jeder politischen Debatte liegt, werde ich mich mit der Klimaliste einbringen.

Nachdem ich hier jetzt also mein persönliches Ohrmuschelrauschen, meinen stream of consciousness bei Demo-Teilnahmen mit euch geteilt habe, lasst uns zurückkehren in die unmittelbare Realität des Aktionswochenendes - und den 05. Juni ausklingen lassen im Treptower Park, bei einem Bierchen, im Schatten der Bäume, plaudernd und lachend: die Klimaliste mal ganz im Regenerationsmodus. Wichtig!

Fahrräder fahren auf der Autobahn
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