Gegen das Vergessen, für die Verantwortung – zum Holocaust-Gedenktag
Anfang 1933 lebten etwa 170.000 Juden in Berlin, im Juni 1943 waren es noch 6.800. Ab 1941 wurden in insgesamt 61 „Osttransporten“ mehr als 35.000 Berliner Juden deportiert und im Konzentrationslager Auschwitz ermordet. Weitere 123 sogenannte „Alterstransporte“ mit 15.122 Berliner Juden gingen nach Theresienstadt. Viele begingen Suizid, um der drohenden Deportation zu entgehen, nur wenige konnten fliehen oder untertauchen. Insgesamt fielen 55.696 jüdische Berliner Mitbürger:innen dem Terror des NS-Regimes zum Opfer. Die ersten drei Berliner Deportationszüge verließen den Bahnhof Grunewald im Oktober 1941 von Gleis 17, welches heute ein Mahnmal ist. Immer mehr Deportationen folgten, dann auch vom Güterbahnhof Moabit und vom Anhalter Bahnhof.
Insgesamt haben die Nationalsozialisten sechs Millionen Juden ermordet. Darüber hinaus sind dem Holocaust über 11 Millionen weitere Menschen zum Opfer gefallen: Kriegsgefangene, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, politische Gegner und Widerstandskämpfer, Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen und psychischen Krankheiten, Menschen aus sozialen Randgruppen wie Obdachlose, Bettler, Prostituierte, Alkoholiker, Wanderarbeiter.
Seit 25 Jahren gedenkt der Deutsche Bundestag am 27. Januar der Opfer des Nationalsozialismus. Das Datum wurde gewählt, weil am 27. Januar 1945 sowjetische Truppen Auschwitz befreiten. Seit 25 Jahren? Erst seit 1996 gedenkt Deutschland offiziell der Menschen, die dem (bisher) dunkelsten Kapitel seiner eigenen Geschichte zum Opfer gefallen sind. Das sagt sehr viel aus über ein Land, das sich angeblich der Aufarbeitung und der Verantwortungsübernahme verschrieben hat. Das Leid war nicht beendet mit der Befreiung von Auschwitz. Und ebenfalls nicht mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Es ist keine abgeschlossene Geschichte; kein Buch, das man einfach zuklappen und sich wieder der Realität zuwenden könnte. Nationalsozialistisches Gedankengut ist Realität. Nach wie vor. Hass und Hetze gegenüber allem als „andersartig“ definierten bahnen sich weiterhin ihren Weg, werden befeuert und münden schließlich immer wieder in Gewalt und Terror. Seit den 90er Jahren nehmen rechtsextreme Angriffe und Mordanschläge zu, die Amadeu Antonio Stiftung zählt bis heute mindestens 208 Todesopfer rechtsextremer Gewalt. 13 davon allein in den letzten zwei Jahren. Hinzu kommen etliche Verdachtsfälle und eine hohe Dunkelziffer an Todesopfern, die nicht gemeldet sind (etwa illegale Einwanderer oder Obdachlose).
Die Worte fehlen angesichts von Menschen, die die Maßnahmen zur Eindämmung einer weltweiten Pandemie mit den Verbrechen des Nationalsozialismus gleichsetzen. Angesichts von Menschen, die sich selbst mit den Opfern des Nationalsozialismus gleichsetzen, während sie auf öffentlichen Bühnen von Meinungs- und Redeverboten schwadronieren. Angesichts von Menschen, die den Holocaust relativieren oder gar leugnen. Angesichts von politischen Parteien, die den Hass mittragen und verbreiten, während sie in demokratisch gewählten Parlamenten sitzen. Angesichts von Mitgliedern aus Sicherheitsbehörden, die sich eindecken mit Waffen und Munition und Todeslisten führen nach dem Vorbild des NS-Regimes. Angesichts der Aberkennung der Gemeinnützigkeit von Vereinen, die sich dem Kampf gegen den Faschismus verschrieben haben. Angesichts von unzähligen ungeklärten rassistisch motivierten Vorfällen und dem politischen Unwillen, rechtes Gedankengut endlich als die größte Gefahr für unsere Demokratie anzuerkennen, um in aller Entschlossenheit darauf zu reagieren.
Heute aber ist nicht der Tag zum Kämpfen, für den lauten Protest, heute ist der Tag zum Trauern. Heute ist der Tag zum Erinnern, zum schmerzlichen Revue passieren lassen, zum sich vergegenwärtigen. Zum Gedenken jedes einzelnen Menschen, der unter dem Hass gelitten hat oder noch immer leidet. Ab morgen aber lasst uns wieder kämpfen! Gegen diesen Wahnsinn und gegen jede Form von Gewalt und gesellschaftlicher Diskrimierung. Und für Liebe und Solidarität.