Was für ein Demowochenende! Was für eine willkommene Abwechslung zum faden Laptop-Zoom-Corona-Alltag! Teil 2: Sonntag!

von Marit Schatzmann

Am Sonntag war dann nach Ausfall im vergangenen Jahr endlich die ADFC Sternfahrt 2021 - DAS Fahrradevent Deutschlands und tatsächlich sogar die größte Fahrradsternfahrt der Welt (Nerd-Detail: am Vorabend haben wir bei uns auf dem Sofa anhand des Wikipedia-Artikels ein spontanes Sternfahrt-Quiz veranstaltet. Ihr wusstet nicht, dass die Sternfahrt erst seit 1993 vom ADFC veranstaltet wird und 16 Jahre vorher von der losen Radfahrervereinigung 'Grüne Radler' ins Leben gerufen wurde? Wir auch nicht!)

Selbe Crew wie am Vortrag, noch plus ein Kumpel, gesellen wir uns am Ostbahnhof zum radelnden Strom dazu. Wie es der glückliche Zufall will, treffe ich nur 5 Minuten später Christian von der Klimaliste, der ohnehin vor hatte, eine Abkürzung zum Großen Stern zu nehmen und dem ich das Riesenbanner, das ich bei mir habe, mitgeben kann. Dies ermöglicht mir, guten Gewissens mit meiner Familiencrew im Gegensatz zum Vortag die ganze Runde zu fahren und von Beginn an Sichtbarkeit der Klimaliste ist somit bei uns UND am Großen Stern gesichert! Check!:)

Und nun inspiriert mich: Was ist euer persönliches Musik-Highlight auf jeder Raddemo? Da käme bestimmt eine tolle Sammlung an einzigartigen Fahrradhits zusammen! :) Mein persönliches Highlight ist und bleibt "Neulich bin ich mit 120 auf meinem Fahrrad rumgefahr´n..." ...na, wer rät es? ...Rrrrrichtig, "Mein Fahrrad" von den Prinzen. Der Knaller. Wenn du inmitten eines Pulks gut gelaunter Menschen auf dem Rad unterwegs bist, die Straße endlich dir gehört und dann dieses Lied ertönt...ich sage euch, nur bei der Vorstellung fange ich jederzeit direkt an zu summen und auf jeder Raddemo kann ich dann laut mitsingen. Hach, wie schön.

Spannend finde ich ja bei der ADFC-Sternfahrt, dass es spürbar ein breiteres Publikum ist als bei den dezidierten Raddemos. Es fühlt sich bisweilen mehr an wie ein reines Spaß-/Freizeitevent. Allerdings darf man nie vergessen, dass das Gruppenradfahren und Beanspruchen des entsprechenden Platzes per se politisch ist. Es stellt ja, ob mit Sprüchen flankiert oder nicht, die Befreiung aus der alltäglich systemisch auferlegten Underdog-Rolle dar.

Als kleine Anekdote in Sachen breiteres Spektrum: Für mich als routinierte Raddemo-Teilnehmende hat der Radler mit EU- und Deutschlandfahne, den ich sah, schon für eine kurze innere Irritation gesorgt (Interessant. Es könnte ein philosophischer Exkurs über kleinste gemeinsame Wirklichkeiten, Dialog und Zukunft folgen...beim nächsten Mal.)

Für dieses Mal lasst uns gedanklich im südlichen Neukölln weiterradeln - und dabei fröhlich den vielen Anwohner*innen zuwinken, die neugierig aus ihren Fenstern das Spektakel verfolgen. Die in großer Mehrheit positive Resonanz auf Raddemos finde ich persönlich immer wieder sehr mutmachend. Ebenso wie das Zusammentreffen so vieler Initiativen, die sich gegenseitig stärken und ihre Solidarität aussprechen - vor allem engagierte Menschen des Volksentscheids 'Berlin autofrei' und 'Deutsche Wohnen und Co. enteignen' sind hier zu sehen.

Besonders eignete sich zum Sammeln von Unterschriften natürlich das gefühlt kilometerlange Fahrrad-Stop and Go vor der Auffahrt zur Autobahn. Und eine willkommene Gelegenheit für meinen kleinen Sohn, sich ein wenig die Beine zu vertreten und herzerwärmenden Kontakt mit vielen freundlichen Menschen aufzunehmen. Als Tipp für Familien: (falls ihr das nicht sowieso schon alle macht und ich einfach nur gerade enthusiastisch über meine neue Erkenntnis bin) Es hat sich für uns als optimal herausgestellt, sowohl mit dem Kindersitz als auch mit dem Anhänger unterwegs zu sein - der Lütte kann bei Bedarf jederzeit im Anhänger pennen und vom Kindersitz aus aber viel besser alles mitkriegen, aufsaugen und rumquieken! Win-win!

...Und dann verlassen wir auch schon wieder die berauschende Weite der autofreien Fahrradbahn und der Trubel der Innenstadt umhüllt uns. Schlussendlich empfängt uns am Großen Stern ein Riesenbanner der KlimalisteBerlin mit wirklich ansteckend enthusiastischen Menschen im türkisen T-Shirt: "Klimaliste wählen, A100 stoppen!", "Wählt Klimaliste Berlin!" Wow, das war wie bei der Klimaliste zu Hause ankommen. Klingt kitschig, ist aber so ;D Als Gruppe verbringen wir noch eine Weile am Brandenburger Tor und sammeln Unterstützerunterschriften. 

Fahrraddemo auf der A100

Besonders rührend wird mir die Begegnung mit einem Herrn in Erinnerung bleiben, der tatsächlich mit Tränen in den Augen sagte, er knie innerlich vor seiner 1989 geborenen Tochter nieder angesichts des dramatischen Zustandes der Welt und seiner eigenen jahrzehntelangen Wirkungslosigkeit. Um Himmels Willen, das konnte ich ja gar nicht mit ansehen. Ich habe ihm sanft aber bestimmt versichert, dass es jetzt vor allem konstruktive, nach vorne gerichtete Zusammenarbeit bräuchte und sicher keine älteren Menschen, die sich selbst fertigmachen! Dazu noch just diejenigen, die über Jahre und Jahrzehnte in ihrem kleinen Kreis versucht haben, was ging - und mehr ging eben auch nicht! Natürlich hatte man sein Leben und seinen Alltag, der gerufen hat, das wäre jedem*r von uns so gegangen. Und wer weiß, mal sinnbildlich gesprochen, wie viele Gretas bereits vor Parlamenten gesessen haben, als einfach die Zeit noch nicht reif war - es müssen so viele Faktoren zusammenkommen und man selbst ist immer nur einer davon. 

Vielleicht ist es wirklich so banal und es hat einfach den Sommer 2018 gebraucht, der uns allen mal ein bisschen den Allerwertesten versengt. Passend zum (kaum vorhandenen) gesamtgesellschaftlichen Klimadiskurs haben wir auch in unseren BUNDjugend-Klimagerechtigkeitsworkshops bis dahin vor allem Klimazeug*innen aus dem globalen Süden sprechen lassen. Klar, es ist unglaublich zynisch, dass das offenbar nicht gereicht hat - aber daran ist kein*e Einzelne*r schuld. 

Und auch meinem Vater, der im Übrigen manchmal ähnlich spricht wie der Herr am Brandenburger Tor, sage ich oft: FFF hat auch all das Potenzial aufgesammelt, was ihr schon über Jahre und Jahrzehnte aufgebaut hattet. Der Erfolg und dieses Momentum ist somit eine wunderbare, nachhaltig gewachsene und nun blühende dezentral verästelte Gesamtleistung. Und jetzt ist wichtig: Jede Zeit hat ihr Potenzial und ihr Narrativ, und unsere Zeit ist eben nicht die der kleinen Ökobubble, sondern die der Massenmobilisierung und radikalen Umsetzung. Jetzt oder nie.

Der Herr und seine Kollegen vom ADFC attestieren mir, ich habe "die richtigen Leute angesprochen" und geben mir bereitwillig ihre Unterstützungsunterschrift.

Eltern und Kinder mit Klimalisten-Shirts sitzen im Park.
Entspannter Ausklang des Nachmittags nach der Demo.

So viele Menschen, so viele Räder, so viele Schilder. Und ich weiß ganz genau, dass sie repräsentativ für noch so viele mehr stehen, die an dem Tag keine Zeit hatten, beruflichen oder privaten Stress, jemanden pflegen, das Datum vergessen oder, oder, oder. Die strukturelle Macht des Status Quo ist auch der Fakt, wieviel ehrenamtliche Arbeit hinter einer Demo steht und wieviele Menschen sich die Zeit nehmen. Mich regt wirklich regelmäßig auf, dass im politischen Diskurs immer wieder aktiv Demonstrierende gegen eine vermeintliche "schweigende Mehrheit" ausgespielt werden. 

Meines Erachtens ist das vor allem Lobbyschutz unter dem Deckmantel des Demokratieschutzes, was ich geradezu kriminell finde. Liebe Politik-Machende, ihr dürft davon ausgehen, dass Menschen eine sichere Zukunft wollen. Bitte, fühlt euch frei, alles in eurer Macht stehende dafür zu tun, unsere Gesellschaft vor einem Klimakollaps zu bewahren. Und auch deshalb wollen wir mit der Klimaliste Berlin 1,5°-Politik von unten und regional durchsetzen, die Stimmen und Forderungen der Klimagerechtigkeitsbewegung direkt ins Parlament holen. 

Wir wollen Klima-Tacheles reden und so dazu beitragen, den politischen Diskurs und damit Handlungsrahmen der inzwischen radikal gewordenen Klimarealität auch nur annähernd Rechnung tragen lassen. Wir werden in der schief hängenden parteipolitischen Gemengelage das Element sein, das dorthin zieht, wo wir längst sein müssten. Auf ein wunderbar lebenswertes klimapositives Berlin 2030!

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