Philosophie der Klimakrise

von Marit Schatzmann

Ein Plädoyer für radikal ehrliche Demokratie, Dialog und die Klimaliste Berlin

Ich erinnere mich genau, wie mich im Philosophieunterricht Hans Jonas‘ „Prinzip Verantwortung“  krass beeindruckt hat. Endlich Tacheles, endlich Zukunftsethik. 1979 verfasst. "In 'Das Prinzip Verantwortung' ruft er nach Zügeln, die die Menschheit von der Zerstörung ihrer selbst abhalten” lese ich jetzt als Beschreibung im Netz. 

Diffuse Erinnerungen kommen auf an einen Vortrag mit dem Klimaforscher Mojib Latif an der HU im Sommer 2015. Etwa 8 Menschen als Publikum im Audimax, ein trauriges Bild. Es ist ein schöner, warmer Abend. Ich bin auch im Anschluss bei Freunden im Garten eingeladen. Vorher frage ich Herrn Latif, ob er mir die PowerPoint zuschicken mag, der Vortrag war wirklich eindrücklich. Wow, davon sollten alle wissen. Ich bekomme eine Mail mit der Präsi im Anhang. Und eine Woche später eine leicht angefressene Mail, ob ich bitte den Erhalt bestätigen könne. Ich wundere mich etwas, dass Herr Latif da bei mir kleiner Studentin so hinterher ist. 

Jahre später verstehe ich, wie verzweifelt er schon gewesen sein muss. Und zerbreche mir tagtäglich den Kopf über der Frage, welche Möglichkeiten er gehabt hätte – was wäre gewesen, wenn er sich statt des Vortrags mit einem Schild zur Dringlichkeit des Klimawandels – von „Krise“ hätte damals niemand gesprochen - in den Haupteingang gesetzt hätte? Konventionen der Wissenschaft hinterfragen, Status Quo unterbrechen, um auszudrücken, worum es hier wirklich geht? Wie viele Menschen haben vielleicht wie Greta schon vor Parlamenten gesessen, ohne dass wir je davon erfahren haben? Muss die Zeit reif, notwendiges Handeln mehrheitsfähig sein? Und hieße das nicht im Umkehrschluss, dass wir angesichts der zeitlichen Versetztheit von Ursache und Wirkung in der Klimakrise zum Scheitern verurteilt sind? Immer Alarmistin – bis es zu spät ist? Gehirnknoten. 

Schmerzlich erinnere ich mich an die letzte Frage bei dem Vortrag mit Mojib Latif, im Sommer 2015. Was er von der These des kollektiven Suizids halte, möchte eine ältere Frau wissen. Die Stimmung im Raum - man konnte das augenrollende Kopfschütteln förmlich schmecken. Auch ich dachte: Was für eine wenig konstruktive Übertreibung – und ein bisschen 'eso' wirkt die Frau ja obendrein. Dass der damalige Leiter des PIK Hans Joachim Schellnhuber im selben Jahr ein Buch mit dem Titel „Selbstverbrennung“ veröffentlicht hat, wusste ich nicht.

Marit Schatzmann fragend gegenüber einer grauhaarigen Person, im Hintergrund unscharf ein Kleinkind
Marit Schatzmann studiert Philosophie & kandidiert für die Klimaliste Berlin auf Platz 9.

Ich war noch in der Erkenntnisphase, dass die Fassade bröckelt. Und wer schon verstanden hatte, dass das ganze Haus einstürzen kann, hatte es wahrlich nicht leicht. Von 2015-2019 habe ich über die BUNDjugend viele tolle Workshops an Berliner und Brandenburger Schulen zu Klimagerechtigkeit und Konsum gegeben. Für mich eine wichtige Ergänzung meines Philosophie-Lehramtsstudiums - junge Menschen aus der Reserve locken, ihnen Fragen stellen und sie ermutigen, sich selbst Fragen zu stellen: Wer wollen wir sein und wie wollen wir leben?

Erinnere mich genau an die Rechnung in meinem Kopf: wenn alle in etwa so viel ihrer Zeit für das Thema geben würden, ja dann…ähnlich wie im individuellen Konsum, ihr kennt das Spiel. Die Illusion, dass wir es auf diese Weise rocken werden, noch plausibel genug, um es sich darin gemütlich zu machen. Und die fossilen Interessen, die diese Diskurse streuten, noch mächtig genug, um nicht hinterfragt zu werden.

Die Illusion wich dem immer deutlicheren Gefühl, dass wir es so nicht rocken werden. Ein paar nette Workshop-Menschen hier, ein paar Bambus-Zahnbürsten da. Mit Schulkindern über Mülltrennung reden, während Politikmachende Milliardensubventionen für fossile Strukturen beschließen, die die Zukunft eben jener Schulkinder zerstören und die Leben von Menschen im globalen Süden sowieso. Mir wurde schlecht. Und mit ganzem Herzen und Sitzfleisch fing ich an, mit Extinction Rebellion zu blockieren – den Status Quo zu unterbrechen, um auszudrücken, dass wir mit Status Quo gegen die Wand fahren. Ich ließ mich schwanger vom Potsdamer Platz tragen und ja, das ist pathetisch, aber die Klimakrise ist einfach auch verdammt pathetisch. 

Tatsächlich kommen mir meine persönlichen letzten zwei Jahre symptomatisch für die Klimakrise und ihr exponentielles Wesen vor: Es war „damals“ schon echt ein Thema, einstürzendes Haus begriffen, von vielen Fragen und Gedanken bewegt. Heute ist mein Sohn gerade mal 1,5 Jahre alt – und ein paar Kilometer von unserer Wohnung entfernt sind junge Menschen im - klimawissenschaftlich komplett begründbaren - Hungerstreik für Klimagerechtigkeit. Vor 2 Jahren habe ich mich (auch in den Medien für XR sprechend) gefragt, was in 30 Jahren ist – heute frage ich mich, was in 5 Jahren ist. Die Drastik der Hungerstreik-Aktion führt zu Berührungsängsten. Und genau damit trifft sie einen Nerv, denn Klimakrise ist Verdrängungskrise. Wir werden sie nicht lösen, wenn wir nicht hinschauen, wo es richtig wehtut. Am Montag haben wir mit den parents4future zum Weltkindertag die CDU-Parteizentrale blockiert, mit Bobbycars, Krabbeltunneln und Schaukelpferden. Auch dieses Bild tat richtig weh und war genau deshalb genau das richtige.

Die Klimagerechtigkeitsbewegung steht vor krassen Herausforderungen und Grundsatzfragen. Und das vor dem Hintergrund der ohnehin immer mitlaufenden strukturellen Macht des Status Quo: Es ist schwer, ehrenamtlich nach Feierabend die Welt zu retten, wenn andere sie hauptberuflich zerstören. 

Ich bin sicher, dass 1,4 Mio. Menschen im September 2019 der Peak waren, das stärkste gebündelte Statement, das wir schaffen konnten. Und das spielt sowohl dem um sich greifenden Fatalismus in die Hände (meines Erachtens die größte Bedrohung für die Bewegung) als auch den Strukturen, die uns kleinreden wollen. Politik, die uns immer wieder versichert, es brauche unseren Druck von der Straße, hilft da nicht. Ihr braucht unseren Druck von der Straße? Wir brauchen Politiker*innen, die schon vorgestern ihre Stimme nutzten, um unser Statement in absoluten Klimatacheles im politischen Diskurs zu übersetzen. Die nicht warten, bis die Massen sie auf Knien um Klimaschutz anbetteln. Die verstanden haben, dass die schonungslos ehrliche Benennung der multiplen Klima-, Demokratie- und Medienkrise, in der wir stecken, die Grundlage für ihre Bewältigung ist und Politiker*innen dabei auch für Aufklärung verantwortlich sind - egal, was alle anderen tun. So wie wir auf der Straße für Klimagerechtigkeit kämpfen – egal, was alle anderen tun. 

Die Bewegung wird sich unweigerlich in sogenannte gemäßigte und radikale Lager verteilen. Mein Plädoyer ist, stattdessen – oder mindestens zusätzlich, ganz im Sinne des „alle Knöpfe Drückens“ - in Parlamente hinein zu expandieren. Wir müssen die Machtfrage anders stellen, auch neue Wege finden, wie wir möglichst viele von uns möglichst nachhaltig empowern. 

Mein Herzensanliegen ist, Klimabewegte nicht an den Zynismus zu verlieren, und dafür braucht es eine echte Vertretung im öffentlichen Diskurs. Fernab von Gute-Laune-etwa-weiter-wie-bisher-aber-Tesla-Diskursen und grinsenden Politik-Plakaten. 

Die Klimaliste Berlin fusioniert Aktivismus und Realpolitik, und dabei bedeutet Aktivismus in erster Linie radikale Ehrlichkeit und Bewegtheit – die Weigerung, abzustumpfen und Empfindungen zu Ungerechtigkeit Konventionen unterzuordnen. Wenn die fossile Lobby mit starken Gefühlen für ihren Profit Zugang zu Parlamenten hat, laut verlässlichen Quellen wohl besonders auf Landesebene, dann brauchen wir den als Klimabewegung auch. 

Marit in Klimalisten Shirt, selbstsicher mit Parteikolleginnen.

Ja, auch meine größte Sorge ist eine auseinanderfallende Gesellschaft. Nach Jahrzehnten, in denen wir auf Pump gelebt und allen Bedürfnissen stattgegeben haben außer den wirklich wichtigen, bricht das Kartenhaus nun zusammen – wir sind der Ikarus, dem die Flügel schmelzen. Geschobene Klimapolitik ist geschobene ehrliche Auseinandersetzung, und die schiere Menge der nachzuholenden Auseinandersetzungen wirkt erschlagend. Auch meine größte Sorge ist, dass wir an der Klimakrise verzweifeln und in ihr aneinander als Menschen. Dass am Ende verschiedene Gruppen vor einem Scherbenhaufen an Gewalt und Leid stehen, aufeinander zeigen und sagen: „Hättet ihr es mal bloß so gemacht wie wir!“ Bitte nicht. Das können wir besser!

Aber sozialer Zusammenhalt wird auch gefährdet durch ständigen Mangel an Tacheles im politischen Diskurs und genau das ist unser Punkt. Wir müssen die physikalische Realität da reinholen. Etwas wird essentiell missverstanden und fehlt, wenn eine Vertreterin der Grünen Jugend auf einem Podium wörtlich über sich selbst sagt, „eher die Soziale als die Ökologische“ zu sein. Wir müssen die Klimakrise als ultimative Gerechtigkeitskrise adressieren, die alle bestehenden Machtstrukturen und Ungleichheiten verschärfen wird. Nur radikale Klimapolitik ist soziale Politik. 

Wir stehen dafür, dass es eine ganz andere Sprache braucht sowohl für die Dimension dessen, worauf wir eigentlich zusteuern als auch wie anders wir alles machen müssen und wie viel besser und gerechter es werden kann. Wir holen ein globales Narrativ in Berliner Politik: Entweder wir stellen uns in der Klimakrise als Menschheit der Verteilungsfrage oder wir werden an ihr scheitern. 

Für den jetzt notwendigen radikalen Klimaschutz braucht es eine neue Geschichte über uns Menschen. Wachstum nur noch für Kinder, Bäume und Solidarität. Ein Berlin mehr als Stadt in der Welt als in Deutschland. Ich wünsche mir eine Politik, die nicht so tut, als ob sie alle Bedürfnisse berücksichtigen kann. Es wird in dieser Transformation zwangsläufig scharfe Zielkonflikte geben – und wir werden dabei den tatsächlichen Trade-Off in jeder einzelnen politischen Entscheidung auf den Tisch legen und das Vertrauen von Klimagerechtigkeitsbewegten priorisieren. Das ist die Stimme, die wir kompromisslos vertreten und sichtbar machen. Und dafür übernehmen wir Verantwortung.

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